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Ist Kontext wirklich die Alternative zu Third Party Cookies?

So funktioniert kontextuelles Advertising. Technologien können dabei helfen, Kontext-Werbung zu mehr Qualität zu verhelfen.
Frank Puscher | 01.07.2022
© freepik / andreyoskirko
 

Auf der Suche nach Compliance mit der DSGVO und gleichzeitiger Steigerung der Relevanz bei der Ausspielung von Werbung, wird in diesen Tagen viel darüber diskutiert, ob kontextuelles Targeting eine Lösung darstellen kann. Viele Technologen rümpfen die Nase: Kontext ist doch ein alter Hut. Aber gerade Technologie kann dabei helfen, Kontext-Werbung zu mehr Qualität zu verhelfen, wie der Roundtable der Marketingbörse am 13. Juni zeigte.

 

Kontextbezogene Werbung ist die älteste Werbeform der Welt. Wer nach potentiellen Kunden sucht, geht dorthin, wo diese Kunden vermehrt auftauchen. Der Sportartikelhersteller wirbt auf Kicker.de oder Eurosport, der lokale Einzelhändler in der Tageszeitung, der Reiseanbieter auf den Travel-Seiten großer Verlage.

 

Soweit so banal. Für eine solche Werbeausspielung braucht es kaum Targeting. Der grobe Kontext der Werbung ist klar, über den Nutzer weiß man nichts. Für den Start in die digitalen Werbesysteme zu Beginn der 2000er Jahre war das ein gutes Konzept, das aber über die Jahre sukzessive verfeinert wurde, in dem man Daten angereichert hat.

 

Um 2010 hieß es dann plötzlich: User vor Kontext. Wenn man den Nutzer identifizieren kann, dann kann man auf gespeicherte Profile zugreifen und daraus Interessen ableiten. Das einfachste und augenfällige Beispiel ist Retargeting. Wenn man dem Nutzer in der Werbung ein Produkt anzeigen möchte, dass er sich vorher im Onlineshop angesehen hat, dann ist es im Grunde wurscht, wo sich der Nutzer gerade aufhält. Die Relevanz erhält das Werbemittel durch den persönlichen Bezug.

 

Im Grunde! „Wir haben immer stärker auf Personalisierung geschaut, und dabei aus den Augen verloren, in welchem Kontext sich der Nutzer gerade befindet“, meint Corinna Hessler Managing Director von Equativ. Und das hatte fatale Folgen: 30 Prozent aller AdImpressions findet auf betrügerischen oder radikalen Websites statt, hat Mr. Media Thomas Koch berechnet. „Die Marken wissen gar nicht mehr, wo ihre Werbung läuft“, pointiert der streitbare Marketing-Veteran. Automatisch ausgespielte Werbung, die nur nach Nutzern sucht, landet zwangsläufig auf Seiten wie Breitbart.com und finanziert damit Propaganda, Hetze und FakeNews.

Corinna Hessler ist der Auffassung, dass Marken oft ihre Filterregeln zu scharf einstellen und dadurch wertvolle und unproblematische Platzierungen auslassen © Equativ

 

Außerdem ist der Kontext, in dem eine Werbung ausgespielt, auch durchaus relevant für das Potential an Aufmerksamkeit, dass der Nutzer überhaupt mitbringt. Auf Websites, die vor allem auf Transaktion ausgerichtet sind, konzentriert sich der Nutzer auf das absolvieren der Transaktion und achtet weniger auf Werbung. Das könnte durch eine DCO-Engine (Dynamic Creative Optimization) aufgefangen werden, die Werbung und bestimmte Werbemittel bevorzugt dort ausspielt, wo sie besser wirkt. Aber längst nicht bei allen Kampagnen ist DCO im Einsatz.

 

Kontext besser verstehen

 

Große Marken, die auf kritischen Websites auftauchten, haben reagiert. Sie haben Filter vorgeschaltet, um das Problem zu verringern. Gefiltert werden ganze Domains, auf denen man nicht auftauchen möchte, gefiltert werden aber auch Schlüsselbegriffe, die indizieren, dass der jeweilige Inhalt der Seite problematisch sein könnte. Und „problematisch“ aus Sicht von Marken ist nicht nur rassistischer oder diskriminierender Content, problematisch ist auch die alltägliche Berichterstattung in den Medien über Krisen oder Katastrophen.

 

Und wenn es Publisher ernst meinen, mit der Optimierung des eigenen Angebots hinsichtlich der Vermarktbarkeit, dann würden sie ihre Redaktionen anweisen, einfach weniger über Problemthemen zu schreiben.  Eine Wirkung, die auf Dauer die Qualität des Journalismus und dessen Kontrollfunktion als vierte Gewalt im Staat untergräbt.

Es ist also ein mehrschichtiges Problem, dass sich aber tatsächlich mit einem einzigen Mechanismus lösen lässt. „Wenn wir Kontext besser verstehen, dann können die Marken ihre Filterregeln lockern und präzise dort ausspielen, wo die Werbung wirkt, ohne dass ein Risiko für die Markensicherheit besteht“, erläutert Corinna Hessler. „Bei Corona war das so. Am Anfang wurde das Keyword Corona von fast allen marken radikal blockiert. Dann hat man über die Zeit erkannt, dass zum Beispiel Berichte über wissenschaftliche Erfolge in der Forschung oder über die unglaubliche Leistung der Pflegekräfte ein durchaus positives Umfeld für Werbung sein können“. 

 

Wie funktioniert die semantische Kontextanalyse?

„Das Grundprinzip der semantischen Analyse ist, zwischen Schlüsselbegriffen Verbindungen zu schaffen. So erkennt man, ob ein Shooter ein Amokläufer, ein erfolgreicher Basketballspieler oder ein Gaming-Genre ist“, erläutert Hessler. „Erst die technische Entwicklung durch einen drastischen Anstieg verfügbarer Rechenleistung und die Entwicklung von KI- oder Deap-Learning-Algorithmen hat eine solche Analyse möglich gemacht“.

 

Aber das reicht natürlich nicht. Die Analyse muss extrem schnell erfolgen, damit sie dem programmatischen Werbesystem zur Verfügung steht. Das erreichen Systeme, wie die von Equativ durch ein kaskadierendes System. Die Basis bildet die Analyse von Domains. Hier bleiben weiterhin klassische Sperrlisten im Einsatz. Breitbart.com wird weiterhin geblockt. Entsprechender Content muss gar nicht tiefer analysiert werden. „Bei neuen Domains prüfen wir sorgfältig. Das ist nichts, was man in Bruchteilen von Sekunden entscheiden sollte“, sagt Hessler. Eine Woche kann eine solche Prüfung schon dauern, aber daran geht das Werbesystem nicht zugrunde.

 

Im Zweifel schauen sich Menschen die Inhalte an, denn sie haben es viel leichter, semantische Zusammenhänge zu erkennen, als eine Maschine. „Ein gutes Beispiel ist der Begriff „Spezialoperation“. Er klingt für eine semantische Analyse weitgehend harmlos, bezeichnet aber – wie wir alle wissen – die russische Propaganda zum Ukraine-Krieg“.

Das System von Equativ erkennt unter anderem auch, ob „schockierende“ Geräusche in den Videos auftauchen, wie zum Beispiel ein Schuss

 

Das System von Equativ erkennt unter anderem auch, ob „schockierende“ Geräusche in den Videos auftauchen, wie zum Beispiel ein Schuss © Equativ

 

Corinna Hessler spricht eine weitere Herausforderung an, vor der Analysesysteme stehen. Wer bewusst problematische Inhalte verbreiten möchte, vermeidet heikle Worte im Klartext, um eben den automatisierten Filtern der Publisher zu entgehen. Für bestimmte Themen gibt es ganze Synonymkataloge – auch das keine neue Erfindung: https://de.babbel.com/de/magazine/slang-und-gaunerjargon-die-verborgene-welt-der-geheimsprachen).

 

Nach der Domainsortierung geht es im nächsten Schritt um eine Priorisierung der Inhalte. Da Equativ der Werbebranche zuarbeitet, bedient sich das System bei klassischen Parametern, wie zum Beispiel der Reichweite eines Dienstes, Kanals oder Absenders (Social Media). „Das Katzenvideo 123 in schlechter Videoqualität wird von uns nicht als erstes analysiert“, erläutert Corinna Hessler. Die Priorisierung entlastet das System, das ansonsten natürlich niemals in der Lage wäre, alle Inhalte, zu scannen, die im Netz erscheinen.

 

Auch die Analyse der Metadaten im nächsten Schritt kann dazu führen, dass sich die Prioritäten verändern. Schreibt ein kleiner Publisher über ein wirklich wichtiges Thema, dann 2schätzt“ das Equativ-System, ob dieser Artikel, das Video oder der Podcast eventuell mehr Reichweite erlangen könnte als normal. Auch dann kann er für die Werbungtreibenden relevant sein.

 

Nun erst erfolgt die semantische Analyse. „Man muss sich das wie ein Scoring-System vorstellen. Es gibt dann bestimmte Schwellenwerte, die dazu führen, dass Inhalte als unpassend gekennzeichnet werden“, sagt die Direktorin. Diese Schwellenwerte können übrigens Marken für sich ganz individuell festlegen, je nachdem, wie sensibel sie in Sachen Markensicherheit wind. Equativ berät allerdings und zeigt die potentiellen Reichweitenverluste auf, wenn man die Schwellenwerte zu niedrig setzt, oder die Risiken für die Marke, wenn das System zu „unempfindlich“ eingestellt wurde.

 

Bei Videos und Podcasts wird im Grunde das gleiche System eingesetzt, nur gibt es eine Vorstufe. Um die Inhalte analysieren zu können, wird die Tonspur des jeweiligen Formats transkribiert. Das ist natürlich nicht in Echtzeit möglich. Hier speist Equativ das Targeting-System aus einer Datenbank heraus.   

Wer Kontext analysieren will, muss auch wissen, was im Video passiert, zum Beispiel durch Auslesen der Tonspur © Equativ

 

Das Scoring sorgt auch dafür, dass Signale, die in Widerspruch zueinanderstehen, vom automatischen System und letztlich vom Werbungtreibenden interpretiert werden können. So kann zum Beispiel beim Focus oder Spiegel, die definitiv als grundsätzlich seriöse Quellen gelten, ein Artikel zu einem problematischen Thema oder sogar ein in sich schwieriger Kommentar erscheinen. „Wir sehen in unseren Analysen allerdings, dass auch kritische Berichterstattung ein gutes Umfeld für Werbung sein kann“. Die wichtigste Botschaft, die Corinna Hessler hat lautet, dass man keinesfalls pauschal agieren sollte, weder beim Blockieren noch beim Zulassen. „Man muss genau hinschauen, dann findet man auch wirkungsvolle Platzierungen, mit denen man vorher gar nicht gerechnet hat“, sagt sie. Das System von Equativ ist tatsächlich in der Lage zu unterscheiden, ob ähnliche Themenartikel bei unterschiedlichen Publishern verschieden gut für die Werbewirkung sind.

 

So haben Publisher wie die Zeit, bei denen es um langformatige, tiefgehende Inhalte geht, oft einen schweren Stand im Wettbewerb zu Publishern mit kürzeren Formaten. „Was allerdings noch nichts über die langfristige Markenwirkung aussagt“, mahnt sie auch hier vor vorschnellen Urteilen. Und natürlich muss man klar zwischen den avisierten Zielgruppen unterschieden. „Die Youngster sind bei langen Texten (oder fast generell bei Text) schnell raus und bevorzugen Informationsaufnahme über Video während die Zielgruppe 40+ diese Informationstiefe schätzt“, so Corinna Hessler.

 

Daten als Kontext

 

Die Variable Kontext ist eine Starke, aber nicht die Einzige, die in einem solchen Setup eingesetzt werden kann. „In der Praxis gibt es viele Kampagnen, die Kontext mit anderen Targeting-Kriterien kombinieren“, sagt Hessler. Und dazu zählen auch Daten von third party cookies, solange es sie noch gibt.

 

Aber Daten bilden eben auch ihren ganz eigenen Kontext bzw. sind in der Lage, diesen zu beschreiben. „Wir machen aus Daten Bilder“. Das ist die Kernthese von Thomas Klimpel, einem der beiden Gründer der Münchner Agentur AIM3. „Das gibt dem Werbungtreibenden die Möglichkeit, den Nutzer und vor allem die Nutzungssituation besser zu verstehen“.

Thomas Klimpel wünscht sich zu Beginn einen kreativen Umgang mit dem Datenpotential der unterschiedlichen Kanäle. Die Automatisierung kommt erst danach @ AIM3

 

Und wenn man diese Daten schon hat, kann man sie auch gleich in das Werbemittel einfügen und es so gestalten, dass es besser zum Kontext passt. Klimpel zeigte im Roundtable der Marketing Börse ein Beispiel von der Tourismusdestination Wilder Kaiser. Die Kampagne, die im Web, mobile und auf digitalen Screens in der Öffentlichkeit (DOOH, Digital out of home) ausgespielt wurde, nimmt sowohl Bezug auf das Wetter am Ausspielungsort als auch auf das aktuelle Wetter am Wilden Kaiser.

 

Vereinfacht ausgedrückt variiert das ausgespielte Werbemotiv, je nachdem, ob in Tirol die Sonne scheint oder nicht. Tut sie das, dann werden Livebilder von Webcams gezeigt, die dem Passanten demonstrieren: So schön ist es hier in diesem Moment. Ergänzt werden diese Bilder um weitere Daten. „Im Winter ist es die Schneehöhe, im Sommer die Außentemperatur, dann geht es um die Golf- oder Wanderdestination“, so Klimpel. Außerdem berechnet das jeweilige Motiv, wie lange man bei aktueller Verkehrslage vom Ausspielungsort zum Wilden Kaiser brauchen würde oder – in Kooperation mit der Deutschen Bahn – welche Zugverbindung sich eignet.

 

Die Ausspielung wird erneut über unterschiedliche Daten gesteuert. Natürlich erfolgt die Auswahl der relevanten Bildschirme über ein klassisches Audience-Targeting. Die DOOH-Kampagne läuft vorwiegend in Süddeutschland, von wo sich eben tendenziell mehr Menschen nach Tirol aufmachen. Die mobile und Web-Variante erschien in ganz Deutschland und holte sich die aktuellen Wetterdaten über Geofencing.

 

Das Wetter am Ausspielungsort ist ein Indikator für den Kontext „Reiselust“. „Ist in Hamburg Schietwetter und am Wilden Kaiser Sonne, dann soll die Kampagne Fernweh erzeugen“, sagt Klimpel. Das gesamte Setup benutzt keinerlei personenbezogene Daten. Der Werbungtreibende muss sich überhauptkeine Sorgen um Cookies und DSGVO machen und spielt doch „quasi-personalisiert“ aus. Personalisiert eben nicht auf demographische oder sonst wie gemessene Merkmale des Nutzers, aber personalisiert auf seine aktuelle Stimmung. „Livedaten schlagen Planung in Sachen Relevanz“, so das Mantra bei AIM3.

 

Der Kunde war so zufrieden, dass der Ansatz nun schon im zweiten Flight läuft.

 

Fazit

Corinna Hessler und Thomas Klimpel konnten deutlich zeigen, dass Kontext in keiner Form weniger leistungsfähig sein muss, als eine Kampagne, die auf personenbezogenen Daten basiert, die in der Regel von Drittanbietern gekauft wurden. Für Thomas Klimpel ist es wichtig zu betonen, dass man den Einstieg für Kunden möglichst einfach machen sollte, damit sie erste Tests mit solchen Systemen wagen. „Das muss überhaupt nicht komplizierter sein, als eine klassische Kampagne. Für viele hört sich das so an, weil Datenquellen angebunden werden, aber die Schnittstellen sind ja da“. Die Anbindung an Routendaten, etwa via Google Maps, gehört bei den meisten DOOH-Vermarktern heute zum Standard-Portfolio.  

 

Und nicht nur die Schnittstellen, sondern auch Templates. „Designregeln wie der Goldene Schnitt kann eine Maschine heutzutage auch abbilden“, sagt Klimpel, der in der Vergangenheit häufiger erlebt hat, dass Widerstand bei Kunden eher aus der Kreation kommt, als aus dem Marketing. „Aber ich glaube, das ist ein temporäres Phänomen. Letztlich wird die Abbildung des Kontexts durch Daten den Kreativen nur helfen, noch passendere und relevantere Kreationen zu erstellen“.

 

Dem stimmt auch Corinna Hessler zu, die sich wünscht, dass die Werbungtreibenden noch viel mehr aus dem Wissen über den Kontext machen, was eine Maschine wie Equativ generiert. „Die Werbung kann zum Beispiel direkt Bezug nehmen auf den jeweiligen Artikel oder das Video, das sich der user gerade anschaut“, sagt sie.

 

Vielleicht sollte man sich einfach von dem etwas angestaubten Begriff Kontext verabschieden. Das neue Buzzword der Stunde ist „Situatives Targeting“. Das meint das Gleiche, hört sich aber viel moderner an.  

 

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Frank Puscher ist Journalist mit über zwei Jahrzehnten Berufserfahrung.