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Was ist eigentlich Spatial Computing?

Mithilfe von Spatial Computing stehen plötzlich nicht nur digitale Trainingsdaten zur Verfügung, sondern das System könnte aus Beobachtungen lernen.
Frank Puscher | 28.03.2024
Porsche versetzt den Nutzer in ein virtuelles Taycan-Cockpit mit allerhand Telemetrie- und Fahrdaten im Blick © Porsche / Chris Hall
 

Apples Vision Pro (AVP) war eines der Top-Themen bei der diesjährigen SXSW in Austin.  Während die Begriffe AR (Augmented Reality) und VR (Virtual Reality) den meisten Experten greifbar sind, fremdeln sie mit Apples bevorzugtem Terminus spatial computing. Ja, die Apple-Brille erkennt den Raum, den auch der Nutzer sieht. Aber was macht man damit?

„Ich habe tatsächlich geweint, als ich meine Vision Pro in Händen hielt“, erklärte Cathy Hackl sichtlich berührt ihrem Publikum. Sie hatte die ganze Nacht angestanden und eines der ersten Exemplare der teuren Brille bekommen. Cathy Hackl? Der Name könnte manchem Leser bekannt vorkommen. Sie hat sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht als „Godmother of the Metaverse“. Ihr Buch „Into the Metaverse“ verkaufte sich blendend. Hackl hat ein Gespür dafür, Trends frühzeitig zu Büchern zu verarbeiten. Ihr nächstes Buch erscheint am 14. Mai. Titel? Sie ahnen es: Spatial Computing.

Die Meinungen zu Apples neuer, teurer Brille für erweiterte und virtuelle Realitäten gingen weit auseinander. Hackl war geradezu euphorisch. Der Trendscout eines sehr großen deutschen Unternehmens immerhin noch verhalten optimistisch. „Man muss erkennen, dass die Vision Pro mitten im Hype um generative AI kommt. Beides zusammen könnte eine spannende Mischung ergeben.“ Der Trendscout meint damit, dass es natürlich anfangs an spezifischem Content für die Vision Pro fehlt, der deren Neuerungen auf spannende Art und Weise nutzt. Viele Unternehmen haben sich mit dem Metaverse die Finger verbrannt und werden abwarten, wie sich Spatial Computing entwickelt. Und genau diese Wartestellung, die für Apple ein Henne-Ei-Problem erzeugen könnte, die kann generative AI brechen, wenn sie guten Content schnell und günstig produziert.

Ist die Vision Pro nur für Entwickler?

Neben diesen beiden optimistischen Stimmen gab es auch viele kritische. Typisch für eine US-Diskussion betreffen sie nicht den Preis. Es ist allen klar, dass Apple zunächst die Early Adopter und Fanboys schröpft, bevor man an den Massenmarkt überhaupt denkt.

„Alles, was ich immer an Apple geliebt habe, fehlt hier.“ Das Urteil von Ron Abovitz ist vernichtend. Der Mann hat eine gewichtige Stimme in der Mixed-Reality-Szene, denn er ist der Gründer von Magic Leap, jenem Start-up für Augmented Reality, das 2015 die Geek-Welt mit ihrem Wal, der aus einem Turnhallenboden auftaucht, verzückte. Mit einem Wagniskapital von insgesamt über zwei Mrd. Dollar zählte Magic Leap damals zu einem der bestfinanzierten Start-ups überhaupt. Investor war unter anderem auch die Axel Springer S.E.

Natürlich kann man Abovitz an dieser Stelle Parteilichkeit unterstellen. Aber er führt gute Argumente ins Feld. „Ich fühle mich von euch total isoliert“, jammert er gegenüber seinen Podiumskollegen. Abovitz war gebeten worden, während der gesamten Diskussion die Vision Pro aufzubehalten, schaffte es aber nur bis zur Hälfte. „Augmented Reality funktioniert viel besser, wenn man das reale Bild mit Computerinhalten mischt, statt dem Nutzer insgesamt nur ein Kamerabild zur Verfügung zu stellen. Die Bildqualität ist schlechter als bei einer Zoom-Konferenz.“

Einer der großen Kritikpunkte am neuen Apple-Headset ist das Gewicht. „Für den produktiven Einsatz eignet sich das nicht“, meint Charlie Fink, Spezialist für XR-Themen beim US-Magazin „Forbes“. Ted Schilowitz, Zukunftsforscher beim Unterhaltungsriesen Paramount, versteht das Konzept nicht. „Warum sollte man so viel Gewicht auf die Brille bringen? Die Balance stimmt nicht. Wenn es schon ein externes Battery-Pack gibt, hätte man auch dorthin Gewicht verlagern können.“

Die externe Stromversorgung, die am Kabel von der Brille baumelt, löste bei allen Podiumsteilnehmern Kopfschütteln aus. Fast angewidert hielt Ronny Abovitz das Kästchen in die Höhe, als wäre es einer Apple-Erfindung unwürdig. „Wenn das der Weg ist, den die Branche geht, wird es noch Jahre dauern“, sagt der Magic-Leap-Gründer und tauscht die klobige Apple-Brille demonstrativ gegen eine Augmented-Reality-Brille von Ray-Ban.

Spatial Computing jenseits der Vision Pro

Das Fazit der Diskussion im Rahmen der SXSW lautete klar: Die aktuelle Vision Pro ist ein Werkzeug für Entwickler und nicht für Endkunden. Natürlich wird es Apple-Fans und wohlhabende Techfreaks geben, die sich das Ding kaufen, aber einen Durchbruch markiert das Produkt nicht. „Wer sich aktuell einen Cybertruck von Tesla bestellt, kauft sich vielleicht auch 10 Vision Pros“, ätzt Schilowitz.

Zu den guten Eigenschaften der Vision Pro zählen nach Meinung der Experten die hervorragende Display-Qualität bei reinen Computerinhalten. Das System zeige sich extrem performant, schalte schnell zwischen Anwendungen um und das Interface sei intuitiv. „Es ist, als hast Du einen Mac auf der Nase.“

Joanna Popper teilt die Kritik ihrer Kollegen nicht vollständig. Die frühere Marketingchefin von NBC Universal schaut auf die spannenden Möglichkeiten im Bereich Unterhaltung. „Wenn man bequem sitzt, spielt das Battery-Pack überhaupt keine Rolle“, kontert sie die Kritiker. Sie fühlte sich absolut „weggeblasen“, als sie die Vision Pro zum ersten Mal aufsetzte. Und das aus dem Mund einer Produzentin, die mit VR-Anwendungen schon den Goldenen Löwen in Cannes und einen Emmy gewonnen hat.

Popper richtet den Blick nach vorn. „Es gibt 34. Mio. Apple-Entwickler weltweit, die werden schon guten Content liefern.“ Ein interessanter Anwendungsbereich sei eine neue Form des Bürgerjournalismus.

Ted Schilowitz sekundiert: „Das digitale Familienalbum wird nie wieder das Gleiche sein.“ Mit den eingebauten Kameras der Vision Pro lassen sich 3-D-Szenen festhalten. Apple Live Fotos on steroids. „Die ersten Laufschritte seines Babys möchte man in dieser Form für die Ewigkeit bewahren.“ Schilowitz sieht mit Disziplinen wie Photogrammetry auch ganz neue Kunstformen heraufdämmern.

Die Fähigkeit, den Raum zu erkennen, ist das, was Spatial Computing von AR und VR unterscheidet. Natürlich kann AR das teilweise auch (Möbel im Raum platzieren) und VR verortet die realen Bewegungen des Nutzers im Digitalsignal. Aber der Apple-Ansatz verbindet das alles nahtlos. Es werden komplette digitale Abbilder von Räumen erschaffen. Um es vereinfacht auszudrücken: Man kann auch hinter das soeben digital platzierte Sofa schauen.

Wie in der Virtual Reality fokussiert der Einsatzbereich zunächst auf allerhand professionelle Disziplinen, die unmittelbar Nutzen schöpfen aus den technischen Möglichkeiten. Die Medizin wäre ein solches Feld. Hier werden auch heute schon VR-Therapien eingesetzt.

Fazit

Begibt man sich von diesem Gedanken auf die Metaebene, dann erscheint eine Möglichkeit am Horizont, deren Tragweite noch nicht im Ansatz abzuschätzen ist. Die Vision Pro ist ein Device, mit dem sich die reale Welt scannen lässt. Und Cathy Hackl meißelt die Worte in den Konferenzraum: „Wir geben der KI die Möglichkeit zu sehen.“

Das ist in der Tat eine Revolution. Zum Beispiel scheitert die Videogenerierung über generative AI wie bei OpenAIs Sora gerade daran, dass die Systeme noch nicht genug Physik verstehen, um Bewegungen realitätsnah abbilden zu können. Mithilfe einer Technik wie Spatial Computing stehen plötzlich nicht mehr nur digitale Trainingsdaten zur Verfügung, sondern das System könnte aus Beobachtung in der Realität lernen.

Auch für das Apple-Fangirl Hackl liegt der Marktstart für die Technologie im Bereich Unterhaltung, zum Beispiel in immersiven Sportübertragungen. Dann aber geht es weiter. Wenn die KI sehen kann, braucht es künftig vielleicht kein Smartphone mehr, sondern einen Smartring oder den gefeierten AIPin von Humane.

Treibende Energie im Markt, so Hackl, wird die Spieleindustrie sein. „Jede reale Fläche wird zum spatial interface“, freut sich die Autorin. „Es ist ein Augenblick in der Geschichte der Technologieentwicklung, der ähnlich ist, wie damals als mobile kam.“

Und die Inhalteanbieter? Nicht alle sind durch die Erfahrungen mit dem Metaverse vorsichtig geworden. Porsche hat soeben eine „AVP Experience“ für den neuen Taycan Turbo GT gestartet. Disney+ will Entertainment-Inhalte beisteuern und Microsoft portiert Office-Tools für die Brille. Nur Meta hält sich mit Whatsapp, Instagram und Facebook noch zurück. Klar: In Mountain View arbeitet man an einer eigenen, neuen Brille.

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Frank Puscher ist Journalist mit über zwei Jahrzehnten Berufserfahrung.